Wilfried Roos: Gestalter der Klimakommune Saerbeck
»Die Klimakommune gehört den Bürger:innen«
Wilfried Roos: Gestalter der Klimakommune Saerbeck
Etwas mehr als 7.000 Menschen leben im beschaulichen Saerbeck, rund 30 Kilometer nördlich von Münster. Die Landwirtschaft dominiert, mit Saertex hat hier aber auch ein weltweit führender Hersteller von Hightech-Fasern seinen Sitz. Und auch bei einem weiteren Thema ist Saerbeck Spitze, wie die Ortsschilder schwarz auf gelb verraten: 2009 erhielt der Ort für sein Integriertes Klimaschutz- und Klimaanpassungskonzept den Titel »NRW-Klimakommune der Zukunft« – und vom damaligen NRW-Umweltminister Eckhart Uhlenberg einen Förderbescheid in Höhe von 1,1 Millionen Euro.
»Damit fing alles an« erinnert sich Wilfried Roos, von 1999 bis Oktober 2020 hauptamtlicher Bürgermeister von Saerbeck und maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Gemeinde den Ehrentitel »Klimakommune« vollauf verdient und bis heute zahlreiche Preise gewonnen hat, unter anderem den European Energy Award und den Deutschen Nachhaltigkeitspreis. Nach dem Startschuss 2009 ist auf dem Weg zum erklärten Ziel – ein klimaneutrales Saerbeck bis zum Jahr 2030 – schon einiges passiert: Im Bioenergiepark auf dem Gelände eines ehemaligen Bundeswehr-Munitionsdepots wird mit Wind, Sonne und Biomasse etwa doppelt so viel Strom produziert, wie in Saerbeck benötigt wird. Und auch die Bürger:innen machen mit und haben mehr als 400 Photovoltaik-Anlagen auf ihren Dächern installiert.
Beim Blick zurück erinnert der verheiratete Vater dreier erwachsener Kinder, der in seiner Freizeit gerne Schach spielt, an das gesellschaftliche Klima im Jahr 2008: »Die Katastrophe von Fukushima war noch nicht passiert, der Atomausstieg lag in weiter Ferne und der Kohleausstieg war noch kein Thema.« Doch vor allem die Geburt seiner beiden Enkelkinder habe in ihm die Frage reifen lassen, welche Welt er ihnen hinterlassen wolle, konkret: Gibt es eine Zukunft ohne fossile Energien, ausschließlich auf der Basis lokaler regenerativer Ressourcen? Für Saerbeck auf jeden Fall.
Erfolgreicher Hochwasserschutz
Der 1952 geborene Wilfried Roos hatte vor seinem Wechsel nach Saerbeck unter anderem als Bauamtsleiter in der Stadt Lengerich Erfahrungen mit der Hochwasserproblematik gesammelt – »Quasi meine erste berufliche Berührung mit den potenziellen Folgen des Klimawandels.« Nachdem der parteilose Roos 1994 zum Saerbecker Gemeindedirektor gewählt wurde – so der damals noch offizielle Titel des Rathauschefs – sah er sich wieder mit dem Thema Hochwasser konfrontiert: »Wir haben zwei Bäche in Saerbeck, die den Ort kreuzen. Nach Starkregenereignissen standen früher viele Keller unter Wasser.«
Der neue Gemeindedirektor warb dafür, den Ortskern hochwasserfrei zu stellen – mit Erfolg. In Saerbeck wurden große Retentionsflächen angelegt, die im trockenen Zustand von Besucher:innen gerne mal für Parkanlagen gehalten werden. Die aber vor allem ihren Zweck als Maßnahme zur Klimaanpassung erfüllen: »Seither sind die Keller trocken und die Kläranlagen nicht mehr abgesoffen, im Gegensatz zu denen in manchen Nachbarorten.«
Alle machen mit
Auf dem Weg zur Klimakommune hatte Saerbeck schon seit den 1990er-Jahren einiges in die Wege geleitet, unter anderem mit Fotovoltaikanlagen auf den Dächern kommunaler Gebäude und einer energie- und kostensparenden Gebäudeleittechnik. Als das Land NRW 2008 den Klimakommune-Wettbewerb ausschrieb, habe es im Gemeinderat auch keine langen Diskussionen gegeben: »Es war schnell klar, dass wir da mitmachen – und natürlich auch gewinnen wollen.« Per Ratsbeschluss wurde dann im Juli 2008 entschieden, die Energieversorgung der gesamten Gemeinde bis zum Jahr 2030 auf regenerative Energien und nachwachsende Rohstoffe umzustellen.
Um dieses Ziel zu erreichen, wurde zunächst eine Steuerungsgruppe ins Leben gerufen. Die definierte sieben Handlungsfelder, von Stoffstrommanagement über Mobilität bis hin zu Bildung und Bürgermitwirkung. Vor allem letzteres sieht Wilfried Roos als entscheidenden Faktor an: »Die Bürger:innen waren sofort interessiert, bei den Veranstaltungen zur Klimakommune ist die Bürgerscheune regelmäßig aus allen Nähten geplatzt.« Das sei nicht zuletzt ein Verdienst von Dr. Christoph Wetter, Professor für Energie, Gebäude und Umwelt an der FH Münster. »Unser Wissenschaftler in der Steuerungsgruppe«, so Wilfried Roos, »hat die Menschen in Saerbeck für die Sache begeistert.« Zum Wettbewerbsbeitrag, dem Integrierten Klimaschutz- und Klimaanpassungskonzept, wurden die Ergebnisse der Steuerungsgruppe vom heutigen Saerbecker Klimakommune-Manager Guido Wallraven zusammengefasst.
Gutes tun und Geld verdienen
150 Projektvorschläge aus der Bevölkerung gingen bei der Steuerungsgruppe ein, die den sieben Handlungsfeldern zugeordnet wurden. »Bis heute sind rund 90 Prozent davon realisiert«, freut sich Wilfried Roos. Damit die Saerbecker:innen auch finanziell von der »Energiewende« ihrer Gemeinde profitieren, wurde 2009 die Bürgergenossenschaft »Energie für Saerbeck« gegründet – die Mindesteinlage beträgt 1.000 Euro, das Maximum sind 20.000 Euro. Die rund 400 Genoss:innen werden von der Saerbecker Volksbank und der Kreissparkasse Steinfurt beraten, deren Expert:innen die Rentabilität der geplanten Projekte streng prüfen – und in der Regel bestätigen.
»Wir waren am Anfang durchaus skeptisch, ob das funktionieren wird«, erzählt Wilfried Roos. Doch als wenige Wochen nach Gründung der Genossenschaft Kassensturz gemacht wurde, seien 4,8 Mio. Euro eingegangen – Geld genug für nachhaltige Investitionen. Und nicht nur das: »Wer sein Geld in Genossenschaftsanteile gesteckt hat, darf sich über eine hochprofitable Kapitalanlage freuen. Zuletzt wurden im November 2021 sechs Prozent Dividende ausgeschüttet, in guten Jahren waren es sogar 9,5 Prozent.« So verwundert es wenig, dass Wilfried Roos von täglichen – derzeit vergeblichen – Anfragen berichtet, der Genossenschaft beitreten zu dürfen: »Im Moment sind wir ein closed shop.«
Das Herzstück
»Da hinten steht mein Windrad« – Wilfried Roos weiß, wie sehr sich die Bürger:innen Saerbecks mit »ihrer« Klimakommune identifizieren, selbst mit anderswo eher ungeliebten Objekten. Das mag besser funktionieren, wenn das nächstgelegene Haus 1,4 Kilometer von den insgesamt sieben Windenergieanlagen entfernt ist. Die stehen im Saerbecker Bioenergiepark, laut Wilfried Roos ein »absoluter Glücksfall«. Denn wo jetzt sauberer Strom produziert wird, lagerte bis 2010 Bundeswehrmunition, überwiegend aus Restbeständen der ehemaligen DDR-Volksarmee.
»Als 2005 klar war, dass die Bundeswehr hier abziehen und das Munitionsdepot schließen würde, wussten wir erstmal nicht, was wir damit machen sollten«, sagt Wilfried Roos. Doch schon bald wurde aus dem vermeintlichen Problem das Herzstück der künftigen Klimakommune Saerbeck. Im Januar 2011 übernahm die Gemeinde das rund 90 Hektar große Gelände und entwickelte mit ausschließlich lokalen Investoren den Bioenergiepark. Mit Solarkollektoren auf Bunkerdächern, sieben Windkraftanlagen und zwei Biomassekraftwerken wird hier regenerative Energie gewonnen mit einer Gesamtleistung von 29 Megawatt. »Damit konnten wir die jährlichen CO2-Emissionen pro Einwohner:in seit 2010 von 9,6 Tonnen auf heute gut vier Tonnen reduzieren«, freut sich der ehemalige Bürgermeister.
Auch beim Thema Biomasse setzen die Saerbecker auf das erfolgreiche Prinzip Regionalität. Der Weg dorthin war laut Wilfried Roos nicht ganz einfach: »Wir hatten heiße Diskussionen in unendlichen Gemeinderatssitzungen, ob wir das Nahrungsmittel Mais verstromen dürfen.« Heute betreiben 17 Landwirte aus Saerbeck unter der Firmenbezeichnung SaerGas die Anlage im Bioenergiepark. Zwei Blockheizkraftwerke erzeugen Strom und Wärme, beschickt wird die Anlage zu zwei Drittel mit ausschließlich auf lokalen Eigentumsflächen angebautem Mais, zu einem Drittel mit Gülle.
Bildungsorte
Im Bioenergiepark wird nicht nur sauberer Strom produziert, sondern auch geforscht und unterrichtet. In dem von der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen geförderten außerschulischen Lernstandort »Saerbecker Energiewelten« können Schüler:innen der Klassen 4 bis 10 nach Herzenslust experimentieren und dabei viel über Klimaschutz, Energie und Nachhaltigkeit erfahren. Die Gemeinde Saerbeck stellt dem Lernstandort Räume im Bioenergiepark mietfrei und zeitlich unbefristet zur Verfügung.
Bereits 2010 wurde der Saerbecker Energieerlebnispfad angelegt, mit neun Stationen zu ausgewählten lokalen Klimaschutzmaßnahmen. Der Weg durch den Ortskern beginnt an der ebenfalls 2010 errichteten Gläsernen Heizzentrale, die über ein Nahwärmenetz das Schul- und Sportzentrum und weitere Gebäude mit Warmwasser versorgt. Die Wärme wird aus Holzpellets erzeugt. Zur Heizzentrale gehört auch ein Raum für Seminare und Vorträge, der für Besuchergruppen oder für den regelmäßig stattfindenden Saerbecker Energiestammtisch genutzt wird.
»Natürlich ist der Bioenergiepark auch eine großartige Werbung für unsere Gemeinde, weit über Saerbeck und die Region hinaus«, sagt Wilfried Roos. Davon zeugen bis heute weit mehr als 100.000 Besucher:innen, »vom Kegelclub aus dem Nachbarort bis hin zu Gemeinderäten aus ganz Deutschland«. Roos durfte prominente Gäste aus allen fünf Kontinenten begrüßen, den Umweltminister der Vereinigten Arabische Emirate ebenso wie den Gouverneur von Fukushima oder David Senjam, Senator des US-Bundesstaats Minnesota. Saerbeck ist Teil der Climate Smart Municipalities, eines Netzwerkes von Städten und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen und im US-Bundesstaat Minnesota.
Zukunftsmusik
Das Ziel einer autonomen Versorgung mit erneuerbaren Energien hat Saerbeck bereits 2013 erreicht, doch es gibt noch viel zu tun. Wilfried Roos nennt die drei zentralen Herausforderungen, die unter dem Motto »Klimakommune 2.0« zusammengefasst sind: »Wärmewende, Verkehrswende, Bildungstransfer.« Dabei könnte es durchaus helfen, dass der italienische Wasserstoff-Spezialist Enapter demnächst in Saerbeck pro Jahr rund 100.000 Elektrolyseure montieren lassen will – Geräte, die mithilfe von Wind- und Sonnenenergie Wasserstoff produzieren können. Auf dem »Enapter-Campus« sollen nicht nur bis zu 300 neue Arbeitsplätze entstehen, sondern in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Münster auch zu nachhaltigen Technologien geforscht werden.
2011 bezeichnete sich Wilfried Roos gegenüber dem WDR als »glücklicher Bürgermeister« – ist er auch ein glücklicher Bürgermeister a. D.? »Auf jeden Fall, die Jahre haben unheimlich viel Spaß gemacht. Und ich kann ja weiter mitgestalten, zum Beispiel als Vorsitzender des Fördervereins Klimakommune Saerbeck.« Der Förderverein plant derzeit den Aufbau einer Akademie für Erwachsenenbildung für kommunalen Klimaschutz, um das ohnehin schon imponierende Saerbecker Bildungsangebot noch auszubauen.
Wilfried Roos hat Spuren hinterlassen – und hat auch nach seinem Abschied als Bürgermeister nicht vor, damit aufzuhören. Insofern betraf der pantomimische Abschiedsgruß – coronagerecht mit Abstand – von Mitgliedern der Steuerungsrunde der Klimakommune nur das Amt, nicht den engagierten Mitbürger: Zwischen den Solarstromanlagen im Bioenergiepark formen sie ein »W« für Wilfried Roos.
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=> Übersichtsseite Buch: Mehr Mut zur Nachhaltigkeit
Energieerzeugung und Mobilität verändern