„Wir brauchen einen Rettungsplan für die Menschen und den Planeten“
Interview: Halbzeit bei der Umsetzung der 17 globalen Nachhaltigkeitsziele
Das Jahr 2023 markiert die Halbzeit bei der Umsetzung der Agenda 2030 und ihrer 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs). Im Interview erklärt Jens Martens vom Global Policy Forum, wo wir stehen und wie sich die Defizite beheben lassen.
8. August 2023 – Angesichts der globalen Krisen rückt die Verwirklichung der Agenda 2030 und ihrer Ziele in immer weitere Ferne. Viele Trends weisen in die falsche Richtung. So stieg die Zahl der Hungernden und der Menschen in extremer Armut, über die Hälfte der Weltbevölkerung hat keinen ausreichenden Zugang zu sozialer Grundsicherung, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen schreitet in alarmierendem Umfang voran, eine Million Pflanzen- und Tierarten sind vom Aussterben bedroht. Aber auch die anhaltende Klimaerwärmung sowie wachsender Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit sind weitere gravierende Probleme. Viele dieser Trends wurden durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und des Kriegs in der Ukraine noch verstärkt.
Der Erfolg der Agenda 2030 wird sich auch in Deutschland darin zeigen, ob die Politik es schafft, das Ruder herumzureißen und den negativen Trends mit effektiven Maßnahmen zu begegnen. Dazu muss ihre Umsetzung zur zentralen Aufgabe aller politischen Ressorts auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene gemacht werden. Und auch die Zivilgesellschaft kann einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie die SDGs noch bekannter macht und von der Politik immer wieder ihre Verwirklichung einfordert. Das Projekt des Global Policy Forums unterstützt zivilgesellschaftliche Organisationen dabei mit Vorträgen, Veranstaltungen, Veröffentlichungen und der Webseite www.2030agenda.de.
Ein wichtiger Anlass ist der SDG-Gipfel der Vereinten Nationen im September 2023. Dort werden die Staats- und Regierungschefs eine Zwischenbilanz ziehen, Fortschritte und Defizite erörtern, aber auch den Kurs für eine beschleunigte SDG-Umsetzung in den kommenden Jahre festlegen.
„Wir brauchen einen Rettungsplan für die Menschen und den Planeten“
Herr Martens, wo stehen wir mit der Agenda 2030?
Die Regierungen haben in der Agenda 2030 17 Nachhaltigkeitsziele (SDGs) und 169 Zielvorgaben vereinbart, die überwiegend bis zum Jahr 2030 erreicht werden sollen. Zur Halbzeit ist die Bilanz niederschmetternd: Nach Angaben der Vereinten Nationen sind die Länder nur bei 15 Prozent der Zielvorgaben im Plan. Bei den übrigen 85 Prozent sind die Fortschritte unzureichend oder die Entwicklung verläuft sogar in die falsche Richtung. Das gilt unter anderem für die Ziele zur Armutsbekämpfung, zur Bildung für alle und zum Schutz der biologischen Vielfalt.
Bei welchen Zielen läuft es gut?
Ehrlich gesagt bei kaum einem. Es gibt einige Ziele, bei denen die Regierungen im Plan sind, aber das sind die Ziele, die auch relativ leicht zu erreichen waren. So sind inzwischen 95 Prozent der Welt ans Mobilfunknetz angeschlossen. Immerhin 30 Prozent der weltweiten Elektrizität kommt aus erneuerbaren Energiequellen, vor 10 Jahre waren es nur gut 20 Prozent. Aber 675 Millionen Menschen müssen weltweit weiterhin ohne Strom leben. Ein anderes Beispiel ist die Jugendarbeitslosigkeit. Die Regierungen haben das Ziel erfüllt, Strategien zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zu verabschieden. Es ist in vielen Ländern aber nicht gelungen, sie tatsächlich zu senken. Mehr als jeder fünfte junge Mensch auf der Welt hat keinen Job oder Ausbildungsplatz. Dabei gibt es eklatante Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Junge Frauen sind mit einer Rate von 32 Prozent mehr als doppelt so häufig betroffen wie junge Männer mit 15 Prozent.
Was sind die Ursachen, dass wir 85 Prozent der Ziele verfehlen?
Die Ursachen sind vielfältig. Natürlich spielen die Auswirkungen der Coronapandemie eine Rolle, und der Ukrainekrieg beeinträchtigt die Lebensbedingungen großer Teile der Menschheit. Am deutlichsten zu spüren ist das bei der Ernährungssicherheit und der Energieversorgung.
Die Weltmarktpreise für Getreide, Erdöl und Erdgas sind 2022 auf Rekordniveau gestiegen und haben eine Inflationsspirale mit massiven Folgen ausgelöst. Die Vereinten Nationen warnten vor der bislang schwersten Krise der Lebenshaltungskosten in diesem Jahrhundert. Aber die Welt war auch schon vor Corona und Ukrainekrieg nicht auf dem richtigen Weg. Die Regierungen haben es in den letzten acht Jahren versäumt, die in der Agenda 2030 geforderten grundsätzlichen Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft anzustoßen.
Wo gibt es die größten Fehlentwicklungen?
Nach 2015 ist es nicht gelungen, Wirtschaft und Gesellschaft flächendeckend auf einen CO2-neutralen Kurs zu bringen. Außerdem hat die Fiskalpolitik nicht verhindert, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergegangen ist. Weltweit hat die extreme Armut in den letzten Jahren zugenommen, aber auch der extreme Reichtum. Und schließlich haben die reichen Länder ihre Zusagen zur Unterstützung der Länder des globalen Südens weder bei der Entwicklungszusammenarbeit noch bei der Klimafinanzierung eingehalten. Stattdessen haben sie sie zum Beispiel beim Wettlauf um Impfstoffe brutal zur Seite gedrängt. Die Folge ist ein massiver Vertrauensverlust und Misstrauen gegenüber jeglichen Politikrezepten, die im globalen Norden formuliert werden.
Was muss jetzt geschehen?
Der UN-Generalsekretär hat von den Regierungen einen „Rettungsplan für die Menschen und den Planeten“ gefordert. Er soll drei Bereiche umfassen. Erstens sollen die Institutionen die für Nachhaltigkeit zuständig sind, gestärkt werden – von der globalen bis zur lokalen Ebene. Zweitens sollen Politiken Priorität erhalten, die Multiplikatoreffekte für die Verwirklichung der SDGs haben. Und drittens fordert er ein „SDG Stimulus“, das heißt ein globales SDG-Konjunkturprogramm in Höhe von mindestens 500 Milliarden Dollar pro Jahr. Es soll vor allem die ärmeren Länder des globalen Südens bei der Umsetzung der Agenda 2030 unterstützen.
Was kann Deutschland dazu beitragen?
Deutschland kann zuallererst einmal den Plan des UN-Generalsekretärs aktiv unterstützen. Olaf Scholz hat dazu die Chance, wenn er im September zum SDG-Gipfel nach New York fliegt. Dazu passt allerdings nicht die Entscheidung der Bundesregierung, im Haushaltsentwurf für 2024 den Etat des Entwicklungsministeriums zu kürzen. Das ist ein fatales Signal, auch an die Länder des globalen Südens. Der Bundestag sollte die Kürzungspläne dringend revidieren.
Wie läuft die Zielerreichung der SDGs in Deutschland?
Die Bundesregierung hat in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie eingeräumt, dass nur bei 30 der 75 Schlüsselindikatoren der Trend positiv ist. Bei 29 Indikatoren ist das Tempo des Fortschritts zu niedrig, um die Ziele bis zum Jahr 2030 zu erreichen, und bei sieben Indikatoren geht die Entwicklung in die falsche Richtung. Bei den übrigen Indikatoren können gar keine Aussagen gemacht werden, weil die Zahlen fehlen. Und selbst diese Bewertung ist zu positiv, weil sie die negativen externen Effekte deutschen Konsumierens und Produzierens im Ausland zu wenig berücksichtigt. Gemessen am Flächenverbrauch und dem Wasserverbrauch von Importgütern lebt die deutsche Bevölkerung weiterhin auf zu großem Fuß.
Wo ist Deutschland gut und in welchem Bereich haben wir die größten Missstände?
Die jetzige Bundesregierung hat einige Ziele der bisherigen Nachhaltigkeitsstrategie nachgebessert, das ist immerhin positiv. Bis 2030 soll der Anteil des ökologischen Landbaus an der landwirtschaftlich genutzten Fläche auf 30 Prozent steigen, der Anteil des Stroms aus erneuerbaren Energiequellen soll auf mindestens 80 Prozent erhöht werden, und die Treibhausgasemissionen sollen um mindestens 65 Prozent sinken. Das ist angesichts von Artensterben und Erderwärmung aber auch bitter nötig.
Bisher ist es weder gelungen, den Endenergieverbrauch im Güter- und Personenverkehr zu senken noch die CO2-Emissionen privater Haushalte substanziell zu reduzieren. Und wie schon gesagt, der ökologische Fußabdruck Deutschlands ist noch immer dreimal so groß, wie er nach Nachhaltigkeitskriterien sein dürfte.
Wie kann lokales Engagement zur Erfüllung der SDGs beitragen?
Städte und Gemeinden spielen eine entscheidende Rolle bei der Verwirklichung der Agenda 2030. Sie sind ausschlaggebend für die Ausgestaltung der lokalen Energie- und Verkehrspolitik, der Flächennutzung und der Wasserversorgung. Die OECD, das ist die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, schätzt, dass mindestens 65 Prozent der 169 Zielvorgaben der SDGs ohne das Engagement von Städten und Regionen nicht verwirklicht werden können. Städte sind wichtig, wenn es um die Schaffung von Wohnraum geht, die Bekämpfung der Luftverschmutzung oder die nachhaltige Mobilität. Aber dazu brauchen sie auch die dazu nötigen finanziellen und regulatorischen Instrumente. Es kann nicht angehen, den Städten und Gemeinden immer neue Aufgaben zu übertragen, ohne ihren finanziellen und rechtlichen Handlungsspielraum gleichermaßen zu erweitern.
Was lässt Sie trotz aller Rückschläge hoffen?
Was Mut macht, sind die zahlreichen Initiativen von unten, die rund um die SDGs in den letzten Jahren entstanden sind. Über 200 Städte haben inzwischen eine Musterresolution zur Agenda 2030 unterzeichnet, dutzende haben beschlossen, kommunale Nachhaltigkeitsstrategien zu erarbeiten – auch in NRW. Einige berichten darüber in Form von Voluntary Local Reviews bei den Vereinten Nationen in New York, zum Beispiel Bonn, Kiel und Hamburg. In einigen Städten sind neue Dialogprozesse und zivilgesellschaftliche Bündnisse entstanden. Das ist allerdings auch bitter nötig, denn ohne das Engagement der Zivilgesellschaft wird es bei der Verwirklichung der SDGs keine Fortschritte geben.
Am 25. August 2023 von 16 – 18:30 Uhr veranstaltet das Global Policy Forum in Bonn ein Fachgespräch zur Halbzeitbilanz der Agenda 2030.
Weitere Informationen
=> Anmeldung zum Fachgespräch bis 20. August 2023
=> Download der Einladung zum Fachgespräch
Folgen des Ukrainekriegs für Nachhaltigkeitsagenda und SDGs