Dr. Davide Brocchi: Ideen für das gute Leben
»Die Transformation braucht Spielwiesen für Alternativen«
Dr. Davide Brocchi: Ideen für das gute Leben
Es gibt Leichteres, als die Arbeit von Davide Brocchi in wenigen Worten zu beschreiben. Grenzgänger, die gleichzeitig Brückenbauer sein wollen, lassen sich nur schwer fassen. Am besten zitiert man seine Website: »Nachhaltigkeit, Kultur und Transformation«. Diese drei Begriffe stehen bei Brocchi nicht isoliert nebeneinander, sondern bilden ein konsistentes Programm, mit dem ein Defizit behoben werden soll: »Wir haben uns in der Nachhaltigkeitsdebatte zu lange auf die drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales beschränkt und die kulturelle Dimension vernachlässigt«, so der in Rimini geborene Sozialwissenschaftler, der seit 2007 in Köln zuhause ist.
Brocchi arbeitet zumeist freiberuflich, zuletzt als Forscher, Berater und Mitgestalter von Transformationsprozessen. Auch wenn sich die Berufung am Ende immer durchsetzte, war die vielfältige Betätigung nicht immer freiwillig. Als er 1992 nach Deutschland zog, lernte er schnell, was Migration bedeutet: »Prekariat gehörte lange Zeit dazu.«
Monokulturen
Davide Brocchi ist auf dem Land in der Emilia Romagna aufgewachsen, in einer Drei-Generationen-Großfamilie. »Meine Großeltern deckten als Kleinbauern nahezu vollständig unseren Bedarf an Nahrungsmitteln.« Vieles von dem, was heute als nachhaltig gilt, hätten sie ohne theoretischen Überbau betrieben: »Chemiearmer Obst- und Gemüseanbau, selber Kochen und genussvolles Essen waren für sie Normalität. Die Menschen hatten zwar wenig Geld, dafür teilten sie aber viel miteinander.« Da erlebte Brocchi, wie sehr das Verhältnis zur Umwelt von den sozialen und kulturellen Verhältnissen abhängt.
Und dann kam die Industrialisierung: »Viele Bauern folgten dem Versprechen der Chemieindustrie: je mehr Kunstdünger und Pestizide, desto größer die Ernte. Parallel lösten sich die gemeinschaftlichen Strukturen auf.« Erst als in den 1980er-Jahren die Krebsrate in der Region anstieg und die Düngemitteleinträge in der Adria zu jährlichen Algenplagen führten, hatte die Politik eingegriffen. Was »Fortschritt« genannt wird, nahm Brocchi damals geradezu körperlich wahr. »Mit 14 habe ich deshalb den ersten Umweltverein in unserer Gemeinde mitbegründet.« Im Gegensatz zu Deutschland und anderen Ländern sei die italienische Umweltbewegung damals auch eine Kulturbewegung gewesen: »Wir haben begriffen, dass die Monokultur in der Landwirtschaft sehr viel mit der Monokultur in den Köpfen zu tun hatte.«
Hochkultur und Abgrund
Mit 17 nahm er 1986 an einem Austausch zwischen der Arbeiterwohlfahrt Heidelberg und dem lokalen Dachverband seines Umweltvereins teil. Deutsche Studierende lernte er später auch in Bologna kennen, während des Studiums der Politikwissenschaften, Psychologie und Philosophie – unter anderem bei Umberto Eco. Dass er später in Deutschland blieb, stieß in seiner Heimat nicht nur auf Verständnis: »Musste es ausgerechnet das Land sein?«, fragte sein Großvater, der 1943 als Zwangsarbeiter deportiert worden war. Die Erzählungen der SS-Massaker in den Apenninen, mit diesem Bild von Deutschland war Brocchi aufgewachsen.
Und doch war Deutschland auch die Heimat der großen Philosophen, die ihn im Studium so faszinierten. »Vielleicht habe ich erst in Weimar verstanden, warum es ausgerechnet Deutschland sein musste: Die Stadt von Goethe, Schiller und dem Bauhaus liegt nur acht Kilometer vom KZ Buchenwald entfernt.« Diese unheimliche Nähe beschäftigt Brocchi immer noch: »Die Fragen, die sich dabei stellen, betreffen auch unsere aktuelle Entwicklung.« Davide Brocchi verweist auf den Philosophen Francis Bacon, der mit seinem Spruch »Wissen ist Macht« den Grundstein der Industriemoderne legte.
Kulturelle Nachhaltigkeit
»Wie können wir die Kultur ändern, in der wir selbst so lange erzogen worden sind?« Das ist für Brocchi die größte Herausforderung einer Transformation zur Nachhaltigkeit. »Ideologien zeichnen sich durch die außergewöhnliche Eigenschaft aus, die Ursache der Probleme als Lösung zu verpacken. So ist es heute mit Wachstum und Fortschritt – als ob das Elektroauto die Welt retten könnte.« Aus diesem Grund brauche Transformation Kulturkritik. Für Brocchi muss diese auch reflexiv und nach innen gerichtet sein. Er begreift Kultur als den »geistigen Bauplan der Gesellschaft.«
Wenn die Transformation einen Kulturwandel voraussetzt, dann geht es nicht darum, eine Ideologie durch eine andere zu ersetzen: »Eine Monokultur der Nachhaltigkeit wäre ein Widerspruch an sich.« Brocchi beruft sich auf die UNESCO, die mit ihrer Allgemeinen Erklärung von 2001 anerkannte, dass die kulturelle Vielfalt das Fundament der Resilienz von Gesellschaften ist: »Eine plurale Ökonomik ist deshalb nachhaltiger als eine neoliberale Monokultur.« Es gehe darum, die Transformation als individuellen und kollektiven Lernprozess zu begreifen, so Brocchi. Er wünscht sich mehr Freiräume für Reallabore und Spielwiesen für Alternativen in den Städten: »Zu oft haben die Investoren in der Stadtentwicklung mehr zu sagen als die Bewohner selbst.«
Nach menschlichem Maß
Eine Transformation zur Nachhaltigkeit sollte dem menschlichen Maß entsprechen: »Es geht nicht darum, den Menschen von oben herab zu erklären, wie sie sich zu verhalten haben, um gut zu sein«, so Brocchi. Eine Kultur der Nachhaltigkeit basiert auf dem Bewusstsein der menschlichen Begrenztheit: »Keiner von uns hat die Wahrheit in der Tasche. Deshalb sind wir auf einen ständigen Dialog mit fremden Perspektiven angewiesen.« Eine wichtige Voraussetzung von Dialog ist für Brocchi die Augenhöhe: »Es braucht einen sozialen Ausgleich, Brückenbauer, Vermittler überall dort, wo sonst Ungleichheit herrscht. Raumöffner sind wichtiger als Raumbesetzer.
«In der Regel könnten wir uns mit dem Lokalen und dem Selbstgemachten stärker identifizieren als mit dem Globalen und dem Vorgegebenen. So kam Brocchi zu der Frage, wie Menschen partizipativ die eigene Stadt und das eigene Quartier stärker mitgestalten könnten. Die Idee des »Tags des guten Lebens: Kölner Sonntag der Nachhaltigkeit« war damit geboren. Sie wurde im Dezember 2011 mit dem »Dialog Kölner Klimawandel« öffentlich ausgezeichnet. »Das motivierte mich, die Idee zu realisieren, mehr aus Neugierde als aus Ambition. Ich wollte sehen, wie weit ich komme.«
Tag des guten Lebens
Der »Tag des guten Lebens« sollte kein Event sein, sondern verstand sich als Katalysator einer progressiven Transformation der Stadt in Richtung Nachhaltigkeit. »In der Transformation ist der Weg das eigentliche Ziel«, betont Brocchi. Schon während seines Diplomabschlusses im Fach Entwicklungssoziologie verfolgte er die Debatte über alternative Wohlstandsmodelle in Lateinamerika, die unter dem Begriff »Buen Vivir« (Gutes Leben) gefasst sind. Mit dem »Tag des guten Lebens« sollte auch in Köln ein Freiraum entstehen, in dem jede Nachbarschaft eigene Wohlstandsmodelle jenseits von Wachstumszwang und Massenkonsum entwickeln und umsetzen darf – und zwar auf den autofreien und kommerzfreien Straßen und Plätzen.
Genau mit diesem Aspekt tat sich die Politik jedoch schwer. Im Mai 2012 lehnte die Bezirksversammlung Köln-Innenstadt die Idee ab. Die komplette Innenstadt an einem Sonntag autofrei? Das kam nicht infrage. Doch die Transformation brauche ein anderes Verhältnis zwischen Bürger:innen und Institutionen, sagt Brocchi. Dabei könne Augenhöhe erst dann entstehen, wenn die Zivilgesellschaft breite Bündnisse bilde. Genau diesen Weg ging Brocchi: Er bat Kölner Organisationen, Einrichtungen und Initiative sein Konzept zu unterzeichnen und lud die ersten 50 davon im September 2012 zu einem Treffen ein. Dabei gründete sich das Bündnis »Agora Köln«. Im Dezember 2012 stimmte die Bezirksversammlung Köln-Ehrenfeld den »Tag des guten Lebens« einstimmig zu und trat selbst der Agora Köln bei.
Nachhaltigkeit als soziale Frage
Der erste »Tag des guten Lebens« wurde am 15. September 2013 im Stadtteil Ehrenfeld ausgerichtet – mit rund 160 Aktionen in 24 autofreien Straßen und der Unterstützung der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen. Seither findet ein solcher Tag jährlich in einem anderen Kölner Viertel statt. Nachdem Davide Brocchi 2015 noch ein Konzept für die Weiterentwicklung des heute rund 160 Mitglieder starken Bündnisses Agora Köln verfasst hatte, verließ er die Initiative. Die Lehren aus dieser Erfahrung hielt er dann in einem Buch fest. 2016 wurde er nach Berlin eingeladen, dort den partizipativen Transformationsprozess zu initiieren und zu begleiten. 2020 und 2021 fand der »Tag des guten Lebens« in drei Berliner Kiezen statt. Der Dresdener Versuch, eine »Woche des guten Lebens« zu realisieren, scheiterte hingegen vor allem an den Widerständen der Stadtverwaltung.
Mittlerweile gibt es einen »Tag des guten Lebens« auch in Wuppertal. Brocchi bewertet diese Entwicklung grundsätzlich positiv, warnt jedoch vor einer Selbstbeschränkung: »Der demokratische Prozess muss im Vordergrund bleiben, die progressive Transformation der Stadt. Der Tag darf nicht zu einem Straßenfest ohne störende Autos verkommen.« Seine Erfahrung ist, dass eine starke Professionalisierung der Organisation auf Kosten der Partizipation gehen kann. An den Ansatz glaubt Brocchi weiterhin: »Der ›Tag des guten Lebens‹ sollte eine Spielwiese sein, um mit der Transformation vor der eigenen Haustür zu beginnen. Hier wurde die Frage der Nachhaltigkeit als soziale Frage gestellt: Wer macht die Stadt für wen? Wie wollen wir zusammenleben?«
Neue Horizonte
Es gebe kein gutes Leben auf Kosten anderer, deshalb ist für Brocchi eine Auseinandersetzung mit diesem Anderen wichtig: »Eine Transformation gibt es nicht, wenn man unter sich bleibt, zum Beispiel im hippen kreativen Quartier.« Das Vertraute verlassen, unbekannte Ort aufsuchen: »Von der Komfortzone in die Lernzone gehen« nennt das Davide Brocchi. »Als Dozent an der Kölner ecosign/Akademie für Gestaltung habe ich meine Studierenden gefragt, wer von euch war schon mal in Palma de Mallorca, wer in Chorweiler – den Kölner Stadtteil hatte noch niemand besucht.« Diese Scheuklappen registriert der 53-Jährige oft.
Für die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten könne die freie Kunst als Brücke dienen, so Brocchi: »Kunst darf nicht nur als Rahmenprogramm für einen ›Tag des guten Lebens‹ gesehen werden, sondern sollte unsere Wahrnehmungshorizonte erweitern.« Allerdings hätten die meisten Menschen es in Jahrhunderten der Fremdbestimmung verlernt, Freiheit zu leben. Dennoch formuliert er zum Schluss eine Idealvorstellung als Arbeitsauftrag für uns alle: »Lebenswerte Städte sollten als eine Art ›Soziale Plastik‹ gestaltet werden, nach dem Motto von Joseph Beuys ›Jeder Mensch ist ein Künstler‹.«
Weitere Informationen
=> https://tagdesgutenlebens.com
=> https://tagdesgutenlebens.berlin
=> Übersichtsseite Buch: Mehr Mut zur Nachhaltigkeit
https://www.sue-nrw.de/tag-des-guten-lebens-wuppertal-2021/
https://www.sue-nrw.de/barcamp-nachbarschaft-macht-zukunft/
Köln: RADKOMM und Tag des guten Lebens