Buchtipp: Radikal Emotional

Buch Maren Urner: Radikal Emotional

Buchtipp: Radikal Emotional

Das neue Buch der Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Maren Urner

22. Mai 2024 – Ob es um die Klimakrise, das Thema Ernährung oder Fragen der Migration geht: Politik ist nichts anderes als ein Aushandlungsprozess über unterschiedliche Gefühle, das sagt zumindest die Autorin und Neurowissenschaftlerin Prof. Dr. Maren Urner. In ihrem neuen Buch Radikal Emotional fordert sie, dass wir unser rationales Politikverständnis überdenken müssen: Angesichts fortschreitender Krisen sollten wir endlich aufhören, Verstand und Emotionen voneinander zu trennen. Nur, wenn wir beides zusammendenken und danach handeln, können wir konstruktiv Politik gestalten, so die Wissenschaftlerin.

Wenn es um gesellschaftspolitische Debatten geht, dann erzählen wir uns seit jeher die gleiche Geschichte: Auf unsere Emotionen könnten und dürften wir uns nicht verlassen. Gefühle seien etwas Privates, das von der professionellen und politischen Ebene streng getrennt werden müsse. Psychologische, anthropologische und neurowissenschaftliche Studien allerdings widersprechen dieser Ansicht radikal, so Urner: Alles, was im politischen Raum passiert, ist von Emotionen geprägt. Auch wenn wir uns sachliche Diskussionen wünschen, zeigt die Realität: Je lauter die Forderung nach Rationalität ist, desto irrationaler und emotional aufgeladener wird die Debatte. Wir werden immer und überall von unseren Emotionen mitbestimmt – Gefühle machen Politik. Daher zieht die Wissenschaftlerin das Fazit: Nur, wenn wir anerkennen, dass wir alle immer und überall emotional und rational zugleich sind, können wir produktiv mit diesem Dilemma umgehen. Dieser Umgang muss radikal sein – das heißt, er muss die Dinge bei der Wurzel packen. Denn sinnvolle gesellschaftliche Auseinandersetzungen – ob am Frühstückstisch, im politischen Raum oder im Plenarsaal – sollten lösungsorientiert sein!

„Wir können nur rational argumentieren, weil wir Emotionen haben“

Interview mit Prof. Dr. Maren Urner wie man gute Debatten führt.
Frau Urner, jahrelang wurde uns beigebracht bei Diskussionen die Gefühle an der Garderobe abzugeben und sachlich, nüchtern und rational zu argumentieren. Jetzt behaupten Sie das Gegenteil, dass müssen Sie uns erklären!
Prof. Dr. Maren Urner ist Autorin und Neurowissenschaftlerin

Prof. Dr. Maren Urner ist Autorin und Neurowissenschaftlerin

Ja, der Trugschluss besteht eben darin, dass wir rein rational, nüchtern und sachlich argumentieren könnten. Es lässt sich ganz einfach auflösen, weil völlig klar ist – aus Sicht der Neurowissenschaften, der Psychologie und des wissenschaftlichen Verständnisses überhaupt – wenn wir auf uns Menschen und unsere Fähigkeiten Entscheidungen zu treffen, ehrlich drauf schauen, dann können wir nur Entscheidungen treffen, weil wir bestimmte Vorlieben, Werte und Überzeugen haben. Und diese Vorlieben, Werte und Überzeugungen sind natürlich immer definiert durch bestimmte Emotionen. Ein Beispiel: Weil ich eine Vorliebe für die Farbe Grün habe, unterschreibe ich mit einem grünen Stift statt mit einem blauen. Studienergebnisse mit Patient:innen, bei denen die Gehirnregion, in der die faktenbasierte und emotionale Verarbeitung zusammenkommt und damit beeinträchtigt ist, zeigen genau das: Sie sind nicht mehr in der Lage, einfachste Entscheidungen zu treffen – wie die Wahl der Stiftfarbe für die Unterschrift – und sitzen unentschlossen vor beiden Stiften.

Genauso ist es mit politischen Diskussionen und allen Diskussionen insgesamt. Wir haben bestimmte Überzeugungen und können entsprechend rational – also zielorientiert – argumentieren, weil wir eben dadurch entsprechende Vorlieben und eine Zielsetzung haben – zum Beispiel der Wunsch, eine lebenswerte Zukunft zu gestalten. Also in aller Kürze: Wir können nur rational argumentieren, weil wir Emotionen haben, die unsere Werte und Überzeugungen bestimmen. Darauf basierend können wir dann gut über Lösungen im Sinne von Zielorientiertheit und Rationalität argumentieren.

 

Leidet der aktuelle politische Diskurs nicht gerade darunter, dass viele Menschen zu radikal emotional argumentieren und so die Gemüter enorm in Wallung gebracht werden. Etwa wie bei den Reaktionen auf die ersteinmal „nüchternen“ Blockade-Aktionen der Letzten Generation?

Absolut! Und hier ist die Unterscheidung zwischen emotional reif und emotionalisierend sehr, sehr wichtig. Wenn es emotionalisierend wird, dann ist unser Gehirn nicht mehr in der Lage abzuwägen, welche Werte und Überzeugungen liegen meiner Argumentation zugrunde. Warum entscheide ich mich für oder gegen eine Maßnahme? Das geht nicht, wenn wir in einem sehr emotional aufgeladenen Zustand sind. Häufig eher negativ im Sinne von Angst oder großer Unsicherheit behaftet, die mir vielleicht entgegengebracht wird. Zum Beispiel bei einer Aktion der Letzten Generation, bei der sich Menschen gegenüber meinem Weltbild so anders verhalten, dass es Unsicherheiten, Angst und Abwehrreaktionen gibt. Das heißt, wir brauchen einen emotional reifen Umgang mit unseren Gefühlen und den damit einhergehenden Überzeugungen und Werten, um nicht in diesen Zustand der emotional komplett aufgeladenen und damit nur noch kurzfristig orientierten Debatten abzudriften.

 

Welche Tipps können Sie uns mitgeben, um einen guten Diskurs zu führen?

Um einen guten Diskurs zu führen, benötigen wir eine kommunikative Reife, die durch eine radikale Ehrlichkeit geprägt ist. Das bedeutet nicht, dass ich jedem oder jeder alles erzähle, was gerade in mir vorgeht, sondern dass ich in meiner Kommunikation ehrlich bin. Das heißt, um einen radikalen und ehrlichen Diskurs zu führen, im Sinne von an die Wurzel gehend und auf die verschiedenen Punkte und Aspekte im Raum eingehen zu können, brauchen wir bei den Teilnehmenden radikale Aufmerksamkeit und wir brauchen die Fähigkeit, uns neue Geschichten zu erzählen. Neue Geschichten vor allem darüber, was normal ist! Was ist zum Beispiel normale Milch, normale Ernährung oder normale Mobilität? Denn wir haben aktuell ganz viele nicht normale Dinge geschaffen in dem Sinn, dass diese Dinge nicht langfristig tragbar sind.

Und die zweite Frage, die Grundlage für einen guten Diskurs ist, wie definieren wir Erfolg? Bei einem guten Diskurs ist es immer wichtig, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. In meinem Buch nenne ich das die radikale Verbundenheit. Dieser kleinste gemeinsame Nenner kann zum Beispiel darin bestehen, dass Menschen in einer Stadt wohnen, dass sie einer bestimmten Religion angehören oder dass sie Eltern sind. Dieser kleinste gemeinsame Nenner ist verantwortlich dafür, dass erst mal Vertrauen untereinander kreiert wird, der dafür sorgt, dass Menschen einander länger zuhören und dass sie zum Beispiel mehr Geld in andere investieren. Statt also immer danach zu schauen, was uns trennt – zu schauen, was ist das Element oder das übergeordnete Ziel, das uns verbindet. Wenn man das gefunden hat, dann kann man in Ruhe darüber streiten, welches der beste Weg ist, um dort hinzukommen.

 

Maren Urner
Radikal Emotional
Droemer Knaur Verlag, München 2024
ISBN 9783426447765
Gebunden, 288 Seiten, 22,00 EUR