Andrea Arcais: Gemeinsam Politik gestalten

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»Frieden schließt man mit Gegnern«

Andrea Arcais: Gemeinsam Politik gestalten

»In Deutschland erscheint mir vieles zu streng, zu genussfeindlich«: Auch wenn man nicht wie Andrea Arcais als Kind einer Arbeiterfamilie auf Sardinien geboren wurde, ist ein solches Urteil nachvollziehbar – auch und gerade über den deutschen Umgang mit Themen wie Nachhaltigkeit oder Klimaschutz. Der allzu oft vorhandene moralische Rigorismus, das Denken in Freund-Feind-Schemata ist dem ehemaligen Abteilungsleiter Energie- und Klimapolitik beim DGB Nordrhein-Westfalen, der im Mai 2022 seine neue Stelle als Geschäftsführer der Stiftung Arbeit und Umwelt bei der Industriegewerkschaft IGBCE angetreten hat, fremd: »Wenn man in Konflikten einen Kompromiss erreichen will, schadet es nicht, auch mal kurz durch die Brille des anderen zu sehen.«

Andrea Arcais, Jahrgang 1960, kam im Alter von vier Jahren mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern ins Bergische Land. Sein Vater war schon seit 1956 als einer der ersten sogenannten »Gastarbeiter« aus Sardinien emigriert. Nach einer Buchhändlerausbildung und dem Studium der Germanistik und Kunstpädagogik in Münster gründete er 1993 eine Kommunikationsagentur.

Die Liebe zur Kunst begleitete ihn. Nach seinem Studium unterrichtete Andrea Arcais für mehr als zwei Jahre an der Kunstakademie Münster experimentelles Zeichnen. Wie sieht es damit heute aus? »Dafür bleibt leider nicht genug Zeit. Diese Form des Zeichnens ist ein Prozess, bei dem man lange dranbleiben muss.« Fotografie ist ein weiteres langjähriges, heute immer noch betriebenes Hobby, dessen Früchte auf seiner Facebook-Seite und manchmal sogar in Ausstellungen gezeigt werden, zuletzt in der Hattinger Galerie »Kleine Affäre«.

Zwischen 1997 und 2004 war er unter anderem Geschäftsführer bei Slow Food und Manufactum – Stationen, die getrost als Synonyme für Lebensgenuss und Qualitätsbewusstsein gelten dürfen. Nachdem er seit 2006 als Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für Christoph Strässer, dem damaligen Münsteraner SPD-Bundestagsabgeordneten und Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Fragen gearbeitet hatte, übernahm er im August 2014 die Geschäftsführung des Vereins KlimaDiskurs.NRW.

Die Perspektive wechseln

Der mit finanzieller Unterstützung durch die Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen sowie der Mercator Stiftung ins Leben gerufene KlimaDiskurs.NRW wurde initiiert vom BUND NRW, vom Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen, von der Landesarbeitsgemeinschaft Agenda 21 NRW, dem NABU NRW sowie der Verbraucherzentrale NRW.

Als Dialogplattform für Vertreter:innen unterschiedlichster Interessengruppen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft trägt KlimaDiskurs mit öffentlichen Veranstaltungen und Workshops, aber auch durch vertrauliche Gespräche dazu bei, die gerade in NRW nicht unkomplizierte, aber gleichwohl notwendige Energiewende auf eine breite gesellschaftliche Basis zu stellen.

Arcais erinnert sich noch an die teilweise massive Kritik, gerade aus den Reihen der Zivilgesellschaft: »Mit dem Feind redet man nicht.« Dabei brauche die Zusammenarbeit unterschiedlicher Partner für ein gemeinsames Ziel eine Form der Verständigung, die über bloße Formelkompromisse hinausgehe. »Wenn ich Interessen ausgleichen will, muss ich die des Anderen erst einmal kennen und versuchen, sie aus seiner Sicht zu betrachten.« Dieser Perspektivwechsel mag sowohl für Umweltverbände wie für Unternehmen nicht immer leicht sein, aber genau dafür biete der KlimaDiskurs diesen und weiteren knapp 100 Mitgliedern eine Plattform und ein Forum.

 

Konstruktiv streiten

Andrea Arcais erzählt, wie die Offenheit nach anfänglichen Vorbehalten stetig gewachsen sei. »Irgendwann hat man gemerkt, man kann miteinander reden – und sogar um die richtige Sache streiten.« Er erinnert sich an den Beitritt eines bedeutenden Unternehmens aus der Chemieindustrie als einen wichtigen Knotenlöser: »Die haben sich wirklich auf die Sache eingelassen und so einigen NGOVertreter:innen die Angst genommen, über den Tisch gezogen zu werden.« Angesichts der Polarisierung bei Themen wie Klima- und Naturschutz sei es ein oft komplizierter Weg zur Erkenntnis, dass notwendige Veränderungen nicht im Stellungskrieg herbeigeführt würden: »Frieden schließt man mit dem Gegner.«

Dass KlimaDiskurs.NRW überhaupt eine für alle Akteure ernst zu nehmende Diskursplattform werden konnte, erklärt Arcais so: »Der Verein hat die eigene Transformation geschafft, nicht mehr ein Verein der Zivilgesellschaft zu sein, der die ›anderen‹ zu Gesprächen einlädt, sondern nunmehr allen Akteuren zu gehören, weil sie Mitglied sind. Unter einem gemeinsamen Dach lässt sich produktiver streiten.«

Man streitet also konstruktiv miteinander, aber nicht nur. Aus dem KlimaDiskurs.NRW sind bis heute mehrere Akteursinitiativen hervorgegangen, darunter Zukunft Wasserstoff.NRW. Hier suchen mehrere Stakeholder nach Wegen, wie der Auf- und Ausbau einer »grünen« Wasserstoffwirtschaft in NRW effizient und unter breiter gesellschaftlicher Akzeptanz vorangetrieben werden kann. In der vom Klimadiskurs koordinierten Gebäudeallianz NRW für Klimaschutz arbeiten Vertreter:innen unterschiedlicher Gruppen – von Gewerkschaften über den Verband der Wohnungswirtschaft Rheinland-Westfalen bis hin zum NABU – an Möglichkeiten, mit quartiersbezogenen Konzepten die energetische Sanierung sozial-, klima- und naturverträglich zu gestalten.

Modell Nordrhein-Westfalen

Von Dezember 2018 bis April 2022 war Andrea Arcais beim DGB NRW als Referent der Vorsitzenden verantwortlich für die inhaltliche Ausgestaltung der Energie- und Klimapolitik. Auch ein Perspektivwechsel, vom Moderator zum Interessenvertreter. Das fiel und fällt ihm nicht schwer, ist Arcais doch seit 1979 Gewerkschaftsmitglied: »Klassenfrage und Ehrensache«. Just Transition, die sozialverträgliche und gerechte Transformation hin zu einer klimafreundlichen Wirtschaft, verankert in der Präambel des Pariser Klimaabkommens 2015, ist das Leitbild des Deutschen Gewerkschaftsbundes. »Das ist eine spannende Aufgabe, zumal im Industrieland Nr. 1 Nordrhein-Westfalen. Wenn uns das hier gelingt, im industriellen Herz Europas, hat das eine Signalwirkung weit über NRW und sogar Deutschland hinaus.«

Arcais ist Pragmatiker, schätzt den Kompromiss. Und er schätzt auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen: »Es ist enorm wichtig, dass NGOs Druck ausüben – auch wenn man sich persönlich manchmal ärgert.« Zum Beispiel über eine mitunter sehr einseitige Sicht der Dinge, die den notwendigen Klimaschutz wie eine Monstranz vor sich hertrage, dabei aber schlicht ignoriere, dass an der Umsetzung viele Existenzen hingen. »Ich kritisiere ein Politikverständnis, das sehr stark auf Symbole setzt und den immer notwendigen Interessenausgleich nonchalant ignoriert.« Wenn er dann in einem Radiogespräch von der Notwendigkeit einer Klima-RAF reden höre, werde er regelrecht wütend: »Da sind dann sämtliche Maßstäbe verrutscht.«

Das Thema Europa liegt Andrea Arcais besonders am Herzen. Er leitete über viele Jahre den Europapolitischen Arbeitskreis der nordrhein-westfälischen SPD und trat 2014 bei den Wahlen zum EU-Parlament für die SPD im Münsterland an. »Fit for 55«, das Maßnahmenpaket, mit dem die EU-Kommission die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 senken will, wird für ihn zur Nagelprobe auch für die deutsche Klimapolitik: »Wir müssen vorangehen, Brücken schlagen, aber auch schmerzhafte Kompromisse schließen – wie etwa bei der EU-Taxonomie. Denn im Alleingang werden wir nichts erreichen.« Ganz gemäß seiner Philosophie: nur gemeinsam können wir Politik gestalten.

Weitere Informationen

=> www.klimadiskurs-nrw.de

=> https://www.arbeit-umwelt.de

=> Übersichtsseite Buch: Mehr Mut zur Nachhaltigkeit

 

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